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O+P Fluidtechnik 5/2017

O+P Fluidtechnik 5/2017

EINBAUEN UND VERGESSEN

EINBAUEN UND VERGESSEN – EINER DER GROSSEN, UNSCHLAGBAREN VORTEILE DER PNEUMATIK SPECIAL / 60 JAHRE O+P Herr Dr. Stoll, vor 1957 gab es zwar schon die Pneumatik, aber kaum Fachliteratur und keine spezielle Fachzeitschrift. Wo konnten sich Interessierte informieren? Wie war die Situation zu dieser Zeit? Als bekannte Persönlichkeit der Branche und als Pneumatiker der „ersten O+P-Stunden“ ist Dr. E.h. Dipl.-Ing Kurt Stoll wohl bestens geeignet, um fundiert über die Entwicklungen und Trends der Pneumatik in den vergangenen 60 Jahren zu berichten. Zusammen mit seinem Bruder Wilfried formte er das Familienunternehmen zur weltweit erfolgreichen Festo AG & Co. KG. Abgesehen von Besuchen auf Fachmessen gab es tatsächlich sehr wenige Informationsmöglichkeiten über die damals neue Antriebstechnologie. Genauso wie in der Pneumatik selbst Tüftler- und Erfindergeist gefragt waren, war auch Pioniergeist bei der Beschaffung von Know-how notwendig. Ich beispielsweise besuchte 1955 eine Fachmesse in Chicago und entdeckte dort, wie man die Pneumatik industriell nutzen könnte. Für Kettenfräsmaschinen von Festo entwickelte ich den ersten einfach wirkenden Pneumatikzylinder als pneumatische Schnellspannung von Werkstücken. Bei Festo sind uns dann in den Folgejahren so viele neue Anwendungsfelder für die Pneumatik eingefallen, dass wir dieses Wissen auch unseren Kunden zugänglich machen wollten. So haben wir angefangen, eigene Schulungen für Kunden durchzuführen. Dabei habe auch ich selbst Seminare vor unseren Kunden gehalten. Daraus entstand dann in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Geschäftsbereich Festo 34 O+P Fluidtechnik 5/2017

INTERVIEW Didactic, in dem heute mehr als 42 000 Seminarteilnehmer weltweit mit Kursen von der einfachen Automatisierungstechnik bis zur Fabrikautomation unterrichtet werden. Was verbesserte sich für die Branche Pneumatik und ihre Anwender ab 1957 durch das regelmäßige Erscheinen der O+P Fluidtechnik? Welche Entwicklungsschritte der Pneumatik waren aus Ihrer Sicht die wesentlichsten? Was sind die wichtigsten Milestones der vergangenen 60 Jahre? Mit dem Erscheinen der O+P hatten die Anwender erstmals ein exklusives Umfeld nur für die Pneumatik, über das sie die neuesten Erkenntnisse der Drucklufttechnologie aus Forschung und Entwicklung erfahren und diskutieren konnten. Damit wurde die Pneumatik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Es gab ja schon andere Fachzeitschriften, die allerdings nicht die Pneumatik allein im Fokus hatten, sondern die ganze Bandbreite des Maschinen- und Anlagenbaus. Das Erscheinen der O+P passte zur damaligen Zeit. Die Nachkriegsjahre waren durch starkes Wachstum und Fortschritt gekennzeichnet. Überall herrschte Aufbruchstimmung. Auch ich hatte in den Anfangsjahren Gelegenheit, in der O+P mein Wissen über die damals neue Technologie an interessierte Leser weiterzugeben. Die 1955 von Festo entwickelten einfach wirkenden Pneumatikzylinder kamen als pneumatische Schnellspannung von Werkstücken in Kettenfräsmaschinen von Festo zum Einsatz. Die Marke Festo aus Esslingen stand damals schon für qualitativ hochwertige Holzbearbeitungsmaschinen (heute Festool). 1956 präsentierten wir den ersten gebundenen Katalog mit einem umfassenden Angebot an Zylindern, Ventilen und Zubehör. Damit lieferte das Unternehmen die wichtigsten Einheiten einer pneumatischen Steuerkette aus einer Hand – von der Druckluftaufbereitung über die pneumatische Steuerung bis hin zum Antrieb. Jedoch je mehr pneumatische Antriebe und Ventile zu deren Ansteuerung in den Maschinen und Anlagen im Einsatz waren, desto größer wurde das Gewirr an Kabeln und Schläuchen. Jedes einzelne Ventil wurde elektrisch angeschlossen, jede Ventilspule einzeln mit der Steuerung verkabelt. Schalldämpfer und Druckluftversorgung sowie Fittings und entsprechende Verschlauchungen der Arbeitsanschlüsse mussten mit dem Zylinder verbunden werden. Sämtliche Einzelteile konnten zu dieser Zeit nur separat bestellt werden. Damit barg bereits die Bestellung der Einzelteile Fehlerquellen. Abhilfe schaffte zunächst die Batteriemontage der Ventile, die mehrere Einzelventile zusammenfasste. Doch erst die Erfindung der Ventilinsel war für die pneumatische Installationstechnik eine Durchbruchsinnovation, denn konventionelles elektrisches Verdrahten und pneumatisches Verschlauchen waren sehr zeit- und kostenintensiv. 1987 präsentierte unsere Forschungsund Entwicklungsabteilung die erste Ventilinsel weltweit unter dem lakonischen Namen Typ 01. Mit der Plattform CPX/MPA gelang die Verbindung von Elektrik und Pneumatik: komplett modulare elektrische und pneumatische Module, wählbare Anschlusstechnik für die Elektrik plus vielfältig wählbare Pneumatikfunktionen und Durchflussklassen. So wurde die einfache und flexible Anbindung von pneumatischen und elektrischen Steuerketten an ein Automatisierungssystem umfassend möglich. Mit Diagnose- und präventiver Wartungsfunktion hilft das CPX-Terminal, die Maschinenverfügbarkeit zu erhöhen. Mit der Integration von Mikroprozessoren in Zylinder und Ventile entstand intelligente Pneumatik – die Entwicklung der Bustechnologie wirkte hier mit großer Schubkraft. Condition Monitoring bei der Druckluftaufbereitung und -versorgung erlaubt oftmals bis zu 30 % reduzierte Betriebskosten. Auch bei der Miniaturisierung wurden große Fortschritte gemacht. So beträgt das Bauvolumen eines Wegeventils heute nur noch rund 7 % gegenüber dem eines vergleichbaren Ventils von 1961. 2017, im Jubiläumsjahr der O+P, findet die Revolution der Pneumatik statt, denn ab sofort wird die Pneumatik durch ihre Digitalisierung noch einfacher, vielseitiger und flexibler. Das brandneue Festo Motion Terminal VTEM katapultiert die Pneumatik ins Zeitalter von Industrie 4.0 – mit Apps, die es ermöglichen, über 50 Einzelkomponenten zu ersetzen. Neueste Entwicklungen in Piezotechnik und Software machen es möglich. Wie das Smartphone vor zehn Jahren den Markt der Mobilfunk-Endgeräte durcheinandergewirbelt hat, so wird das Festo Motion Terminal die Automatisierungstechnik auf den Kopf stellen. Die neue Art der Funktionsintegration – kombiniert mit Software-Apps – vereinfacht die komplette Wertschöpfungskette, denn es wird nur noch eine Hardware benötigt. Dank der im Festo Motion Terminal verwirklichten Fusion aus Mechanik, Elektronik und Software wird ein pneumatisches Produkt zur echten Industrie-4.0-Komponente und ermöglicht eine flexible Produktion. Der Wechsel pneumatischer Funktionen sowie die Adaption auf neue Formate werden mittels Parameteränderung über Apps gesteuert. Die integrierte intelligente Sensorik für Regelung, Diagnose und selbstlernende Aufgaben erspart Zusatzkomponenten. GENAUSO WIE IN DER PNEUMATIK SELBST TÜFTLER- UND ERFINDERGEIST GEFRAGT WAREN, WAR AUCH PIONIERGEIST BEI DER BESCHAFFUNG VON KNOW-HOW NOTWENDIG. O+P Fluidtechnik 5/2017 35

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