Innovative Alternative zur Kettenschaltung: Die Motor-Gearbox-Unit für E-Bikes überträgt die Antrittskraft über Karbonriemen auf eine Riemenscheibe am Hinterrad MOTOR UND GETRIEBE IN EINER EINHEIT AKTIVE MOBILITÄT WEITERGEDACHT Die Motor-Gearbox-Unit von Pinion wurde als Winner beim Design & Innovation Award 2024 geehrt – dem Oscar der Bike- und Outdoor-Industrie. In der Begründung der Jury heißt es, die Innovation revolutioniere das E-Bike-Erlebnis mit ihrer tion von Getriebe-Gangschaltung und Motor in einer Einheit. Die All-in-One- Integra- Antriebslösung ist wartungsarm und praktisch verschleißfrei. Immerhin 10 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland fuhren im Jahr 2020 regemäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit, so eine aktuelle Erhebung des Statistischen Bundesamtes. Aktive Mobilität mit dem Fahrrad oder E-Bike wird immer beliebter in Freizeit, Sport und Urlaub. Weniger beliebt sind seit jeher konventionelle Kettenschaltsysteme. Über die Jahre sind sie zwar leistungsfähiger, aber nicht weniger anfällig geworden. Voluminöse Zahnkränze und sensible Schaltmechaniken am Hinterrad sind Wasser, Schmutz und mechanischen Einwirkungen schutzlos ausgesetzt. Das ständige Auf und Ab über die Kettenritzel strapaziert nicht nur die Kette, auch die Schalteinstellungen müssen regelmäßig nachjustiert werden. Einen so hohen Aufwand für Service und Reparatur würde wohl kaum jemand bei seinem Auto akzeptieren. Das brachte die angehenden Ingenieure und Mountainbiker Michael Schmitz und Christoph Lermen im Jahr 2006 auf die Idee, eine Tretlagerschaltung nach dem Vorbild eines Automobilgetriebes zu entwickeln. Die Kraftübertragung von der mittigen Tretachse auf ein Schaltwerk an der Hinterradnabe schien den beiden überholt. Und integrierte Nabenschaltungen führten bis dato ein Nischendasein. „Unsere Vision war eine Antriebs- und Getriebelösung für das Fahrrad, die genauso zuverlässig funktioniert wie beim Auto“, betont Lermen. Michael Schmitz und Christoph Lermen sind die Gründer der Firma Pinion und heute Teil der fünfköpfigen Geschäftsführung. Rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zählt das Unternehmen heute. Die Idee gab 2008 den Anstoß zur Firmengründung. Was folgte waren lehr- und entbehrungsreiche Gründerjahre. Ein erster Prototyp kollabierte bereits nach wenigen Metern. Am Ende anfänglicher Begeisterung stand die Erkenntnis, das Thema Fahrradantrieb komplett neu denken zu müssen. Im Jahr 2012 gelang es der kleinen Manufaktur, die erste alltagstaugliche, rein mechanische Tretlagerschaltung mit stattlichen achtzehn Gängen am Markt vorzustellen. Zielgruppe waren engagierte Sportradler, Pendler und Tourenfahrer, die bereit sind, für präzises und wartungsfreies Schalten etwas mehr auszugeben. „Rund 100 Radhersteller verbauen derzeit unsere mechanischen Schaltungen. Die meisten nicht ausschließlich, sondern in der Regel parallel zu konventionellen Lösungen“, berichtet Dirk Menze, bei Pinion verantwortlich für Marketing und Design. VERSCHLEISS UND ZUVERLÄSSIGKEIT Als Unternehmen wie Bosch, Shimano und andere zu Beginn der Zehnerjahre den Wachstumsmarkt E-Bike witterten, veröffentlichte Pinion eine viel beachtete Studie zum Fahrradantrieb der Zukunft. Die beiden Firmengründer waren sich einig, dass der Ansatz der großen Player nicht der richtige ist. Sie sahen voraus, dass die zusätzlichen Kräfte, die ein Elektromotor auf Kettenschaltungen überträgt, zu hohem Verschleiß und einer ganzen Reihe von Zuverlässigkeitsproblemen führen würden. Lermen er- 16 MOBILITY 2024
MOBILE MASCHINEN innert sich: „Der Linie ‚jetzt flanschen wir mal einen Motor und eine Batterie ans Fahrrad und schauen, was passiert‘ wollten wir nicht folgen.“ Im Jahr 2017 hat Pinion mit der Entwicklung eines eigenen Elektroantriebs begonnen. Bereits während der Entwicklung arbeitete das Unternehmen mit 9 Launchpartnern zusammen. Auf der Fahrradmesse Eurobike 2023 wurde die einbaufähige Motor- Gearbox-Unit (MGU) erstmals präsentiert und Pinion ging mit 15 Modellen an den Start. OPTIMAL ABGESTIMMT Das robuste Magnesium-Gehäuse der MGU vereint eine High- End-Getriebeschaltung mit einem bürstenlosen Industriemotor und intelligenter Software zu einer optimal aufeinander abgestimmten Antriebs- und Schalteinheit. Die vollständig gekapselte All-in-One Lösung ist verschleißarm und kommt nahezu ohne Wartung aus. Nur alle 10.000 km ist ein Ölwechsel erforderlich. In Kombination mit dem durchdachten Funktionsprinzip des Schaltwerks erlaubt die selbst entwickelte Software unmittelbares und hochpräzises Schalten. Zu jedem Zeitpunkt, im Stand, während der Fahrt und selbst unter Last. E-Bikes mit MGU-Ausstattung sind vom Ballast und den Anfälligkeiten einer Kettenschaltung befreit. Das Hinterrad muss weniger ungefederte Masse verkraften, der Radschwerpunkt liegt mittig am Tretlager. Die Kraftübertragung erfolgt wahlweise per Kette oder Karbonriemen auf ein einziges Ritzel am Hinterrad. Die Schalt- und Antriebseinheit steht als 9- oder 12-Gang-Version zur Verfügung, wiegt rund 4 kg und bietet eine überdurchschnittlich hohe Bandbreite von 600 Prozent oder 568 Prozent. „Bei dem im Vergleich zu reinen Antriebsmotoren etwas höheren Gewicht der MGU ist zu beachten, dass das Rad durch den Wegfall von Kassette und Schaltwerk um rund 600 Gramm abspeckt“, erläutert Lermen. Mit Antriebsdrehmomenten von circa 85 Nm und bis zu 160 Nm am Hinterrad bei hohen Trittfrequenzen (Kadenz) in den niedrigen Gängen liegt die MGU auf Augenhöhe oder gar über dem Niveau konventioneller Antriebsmotoren. VERSCHLEISSFREIE GETRIEBETECHNIK Die Motor-Gearbox-Unit besteht aus rund 190 Bauteilen. Diese entsprechen höchsten Industriestandards und kommen zu einem großen Teil von Zulieferern aus dem süddeutschen Raum. Wie bei der nichtmotorischen Tretlagerschaltung setzt der Antriebsspezialist bei der MGU auf eine hocheffiziente Stirnradverzahnung mit zwei hintereinander geschalteten Getriebesätzen. Die einzelnen Übersetzungsverhältnisse ergeben sich aus der Abstimmung der beiden Teilgetriebe mit verschiedenen Zahnradpaarungen. Ein Teilgetriebe wird dabei umgedreht geschaltet, dies führt zu einer Optimierung der Schaltvorgänge. Die Schaltung der Gänge erfolgt über eine elektronisch angesteuerte Schaltwelle: Ein Schaltvorgang aktiviert jeweils zwei nur fingernagelgroße Schaltklinken aus gehärtetem Werkzeugstahl. Diese richten sich aus der Schalt- und Antriebswelle auf und treiben die korrespondierenden Stirnradpaare an, und zwar über an den Laufflächen eingefräste Verzahnung. Nichtbeteiligte Stirnräder laufen dabei lastfrei mit. Diese technologisch anspruchsvolle Antriebslösung ermöglicht Schaltvorgänge innerhalb von Millisekunden in jeder Situation. SOFTWARE LERNT AUS FAHRGEWOHNHEITEN Für den hohen Schalt- und Fahrkomfort sorgt auch das von Pinion entwickelte Smart-Shift-System. Neben einstellbaren Fahrstufen wie Eco, Flow, Flex, Fly und Schiebehilfe stehen ein manueller, halbautomatischer sowie seit September 2024 ein vollautomatischer Schaltmodus zur Wahl. Per Trigger-Button stellen Fahrer und Fahrerinnen ihre gewünschte Kadenz mit der Auto-Shift-Automatik ein. Das System speichert den Wert und wählt den zur Topografie passenden Gang automatisch. Die Kadenz lässt sich während der Fahrt wunschgemäß anpassen und die Automatik abschalten. Mit Auto-Shift-pro können Biker die gewählte Trittfrequenz übersteuern und ihre Gänge nach Wunsch per Trigger hoch oder herunter schalten, zum Beispiel bei wechselndem Geländeprofil. Bilder: Pinion www.pinion.eu UNTERNEHMEN Pinion GmbH Heerweg 19, 73770 Denkendorf Tel. 0711 21 74 91 500 E-Mail: info@pinion.eu AUTOR Wolfgang Zosel, freier Journalist, im Auftrag der Pinion GmbH, Denkendorf
Laden...
Laden...